Kann man Trauer üben?

Die 15-jährige Ella ist traurig. Zehn Tage war ihre geliebte Katze Tinka verschwunden. Tinka, mit der Ella neun Jahre ihres Lebens verbracht hat, die ihre Trösterin war, wenn sie traurig war, ihr Sonnenschein, der nicht nur Mäuse nach Hause brachte, sondern ganz viel Freude. Jetzt ist Tinka tot. Überfahren. Ellas Mutter hat ihr Fell in einem Gebüsch am Straßenrand gefunden. Eingewickelt in ein Tuch legt sie es vor die Gartenhütte.

 

„Ich glaube, das ist unsere Tinka“, sagt sie zu ihrer Tochter. „Aber es ist nicht mehr die Tinka, wie wir sie gekannt haben.“ Die Mutter sieht Ella an, die blass und ernst vor ihr steht.

 

„Ich weiß nicht, ob du sie nochmal ansehen möchtest“, sagt sie. „Es ist nicht mehr viel übrig von ihr. Und es stinkt.“

 

Ella überlegt nicht lange. „Ich will sie sehen“. Ihre Stimme klingt fest. Zehn Tage Ungewissheit, zehn Tage Schwanken zwischen Hoffnung und einem Gefühl von Trauer, das noch keinen richtigen Platz hatte, sind vorbei. Das Mädchen möchte Gewissheit haben.

 

Tapfer gehen die beiden zusammen in den Garten. Sie untersuchen das Fell. Es ist schwarz wie Tinka, es sieht aus wie das Fell einer Katze. Trotzdem sind sich Mutter und Tochter nicht sicher. Es könnte auch irgendein Tier sein, nicht Tinka. Sie bedecken Mund und Nase, um den Verwesungsgeruch nicht zu sehr wahrnehmen zu müssen. Dann entdecken sie die Ohren. Die Mutter nimmt einen Stock.

 

„Wenn auf der anderen Seite der weiße Fleck ist …“, sie dreht das Fell um. Das weiße Sternchen ist unverkennbar.

 

Ella sacken die Knie weg. Sie hockt vor ihrer geliebten Katze und weint bitterlich. Sie weint zusammen mit ihrer Mama. Kurz darauf kommt der Vater nach Hause. Er weint nicht, möchte seinen beiden Mädels lieber eine Stütze sein, obwohl ihm eigentlich selbst zum Heulen zumute ist. Er holt den Spaten und hebt ein Grab aus. Manchmal tut es gut, in der Traurigkeit etwas zu tun, zu handeln.

 

Die Mutter zündet unterdessen Kerzen an, die sie um die zugedeckte Tinka stellt. Es ist inzwischen fast dunkel, die Atmosphäre ist feierlich. Die drei nehmen die Kerzen und die Katze. Während sie Tinka beerdigen, springt der Hund fröhlich um sie herum und bringt seinen Ball. Trauer und Freude liegen oft so dicht beieinander.

 

Ella ist trotz aller Traurigkeit froh, dass sie den Mut aufgebracht hat, ihre Katze noch einmal anzusehen. Das “Be-greifen“ der Tatsache, dass ihre Katze nie wieder nach Hause kommen wird, hilft ihr, mit ihrem Tod klarzukommen. Sie hat Gewissheit, kann Abschied nehmen, abschließen, Dankbarkeit fühlen, für die schöne Zeit, die sie mit ihrer Kuschelfreundin haben durfte.

 

In den ersten Tagen sprechen sie in der Familie viel von Tinka. Sie erinnern sich. Wie sie sich auf dem Ofen wärmte oder wie sie geschnurrt hat.

 

„Ein ganz spezielles Nähmaschinenschnurren war das“, lächelt Ella. Ihre Mutter hat Tränen in den Augen.

 

„Ich kriege das Bild von ihrem Fell nicht aus dem Kopf, wie es da im Gebüsch an der Straße hing“, sagt sie. „Wie geht es dir damit? Denkst du auch andauernd an dieses grausame letzte Bild?“

 

Ella schüttelt den Kopf.

 

„Nein, daran denke ich bewusst nicht“, erklärt sie. „Ich erinnere mich an die schönen Momente mit ihr, daran, wie sie lebendig war.“

 

„Das ist ein guter Plan“, gibt die Mutter zurück und lächelt. „Das werde ich ab heute auch so machen.“

 

Wir können in der Trauer so vieles voneinander lernen! Ella hat gelernt, wie sich Trauer anfühlt, sie hat den tiefen Schmerz des Verlustes eines geliebten Familienmitglieds erfahren. Sie hat eine Strategie gefunden, damit gut umzugehen und auf diese Weise ein ganz wichtiges Übungsfeld betreten, denn vermutlich wird sie im Laufe des Lebens noch mehr Trauer erfahren. Wie gut, dass Ella von ihren Eltern begleitet wurde, dass die Mutter ihr die Möglichkeit gegeben hat, sich zu verabschieden, auch wenn der Anblick nicht schön war. Wir können Schmerz nicht immer ausweichen, aber wir können Strategien einüben, um ihn zu verarbeiten. Diese Erfahrung wird Ella für ihr Leben stärken.

 


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Kommentare: 2
  • #1

    Sabine (Mittwoch, 03 Februar 2021 23:16)

    Wunderbar geschrieben ! Wir haben das leider vor einigen Jahren auch schon erleben müssen, daher kann ich mich in deiner Geschichte gut wiederfinden.

  • #2

    Angelika Wesner (Donnerstag, 04 Februar 2021 13:56)

    Liebe Sabine, danke für das Feedback! Es ist tröstlich, zu wissen, dass andere Menschen ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder machen. Trauer betrifft nun einmal uns alle. Deshalb kann der offene Austausch eine Wohltat für die Seele sein. Alles Gute für Dich!

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Angelika Wesner

Heilpraktikerin für Psychotherapie (HeilprG)

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